2. Fallbeispiel Mahmoud

Fallbeispiel Mahmoud (Mobbing auf dem Schulweg)
Mahmoud lebt in einem kleinen Ort in NÖ. Er ist vor 5 Jahren mit seiner Familie aus Afghanistan nach Österreich gekommen. Er hat südländisches Aussehen und spricht mit Akzent. In der Ortschaft kennt man seine Familie als die „afghanische Familie“. Zurzeit besucht er die 1. Klasse Mittelschule. Wie alle anderen Schülerinnen und Schüler aus seiner Umgebung muss Mahmoud täglich mit dem Bus in die nächstgrößere Gemeinde fahren. Eigentlich fühlt sich Mahmoud in seiner Schule und Klasse wohl. Er ist dort gut integriert und hat gute Freunde in seiner Klasse. Jedoch wohnen seine Klassenkameradinnen und Klassenkameraden nicht in seiner Nähe. Manche kommen sogar aus anderen Dörfern.
Seit ca. 4 Monaten passiert es immer wieder, dass Mahmoud von vier Burschen aus der Umgebung an der Haltestelle ausgelacht oder beschimpft wird. Zwei davon besuchen die Parallelklasse an seiner Schule, die anderen beiden die AHS. Er kennt die vier zwar schon, hat aber mit ihnen bisher nicht viel zu tun gehabt. Immer wieder wird er von ihnen als „Scheiß Afghane“ oder als „Ziegenficker“ beschimpft. Er solle dorthin verschwinden, woher er gekommen sei. Sie lachen Mahmoud aus oder äffen ihn nach, wenn er Falsches sagt. Er traut sich nicht, sich zu wehren und hält sich zurück. Letztens wurde er beim Einsteigen in den Bus wieder einmal weggeschubst. Infolge dessen verlor er sein Gleichgewicht und rutschte aus. Er zog sich eine leichte Knieverletzung zu. Mittlerweile geht er schon freiwillig eine Busstation weiter zu Fuß, um nicht mit den Burschen an der gleichen Haltestelle warten zu müssen. Jedoch lästern sie dann über ihn im Bus und behaupten, er sei ein Angsthase. Seinen Eltern will Mahmoud nichts sagen, sie sollen nicht über ihn denken, er wäre schwach.
Innerhalb der Schule wird er von den anderen Burschen aus der Parallelklasse in Ruhe gelassen. Vor ein paar Tagen hat er seinem besten Freund in der Klasse von den Vorfällen erzählt und berichtet, wie schrecklich es zurzeit für ihn sei, in die Schule zu fahren. Er könne es einfach nicht mehr aushalten. Sein Freund aus der Klasse informiert den Klassenvorstand und bittet um Hilfe, weil er sich große Sorgen um Mahmoud macht.
Erste Hilfe für den betroffenen Schüler: Der Klassenvorstand stellt sich eindeutig hinter Mahmoud und nimmt die Situation ernst. Er soll unterstützt werden, sich auch in schwierigen Situationen handlungsfähig zu erleben. Gewaltsituationen (sowohl psychisch als auch physisch), die beobachtet werden, gleich unterbrechen und einschreiten. Sie haben als Lehrkraft Verantwortung und eine Vorbildwirkung.
Leitfrage 1: „Welche Mobbingform und welches Mobbingmotiv lassen sich erkennen?“
Folgende Mobbingkriterien sind erfüllt:
- Schädigungsabsicht: Die Mobber wollen Mahmoud sowohl psychisch als auch physisch aufgrund seiner Herkunft verletzen und beleidigen.
- Machtungleichgewicht: Die Mobber sind in der Mehrzahl. Zudem sind sie ihm sprachlich überlegen. Mahmoud fühlt sich machtlos und erschlagen.
- Wiederholungsaspekt: Seit 4 Monaten wird Mahmoud fast täglich beleidigt oder verletzt.
- Hilflosigkeit: Mahmoud ist verzweifelt und hat Angst, in die Schule zu fahren.
Mobbing wird vor einem fremdenfeindlichen Hintergrund ausgeübt. Die Täter üben gegenüber Mahmoud Macht aus und signalisieren ihm, dass er unerwünscht ist.
- Physisches Mobbing: Wegschubsen
- Verbales Mobbing: Beschimpfungen, Auslachen und Beleidigungen mit rassistischen Inhalten
Leitfrage 2: „Gibt es gesetzliche Rahmenbedingungen, die beachtet werden müssen? Allfällige strafrechtliche Folgen?“
Gibt es rechtliche Rahmenbedingungen, die beachtet werden müssen?
Wie dem Fallbeispiel eindeutig zu entnehmen ist, finden die entsprechenden Verhaltensweisen ausschließlich auf dem Schulweg statt.
Da der Klassenvorstand informiert wurde, hat die Schule und somit auch die Lehrkraft die Verpflichtung und Verantwortung gegen Mobbing generell und in jedem Einzelfall einzuschreiten. Dazu gilt der § 2 des Schulorganisationsgesetzes (staatlicher Erziehungsauftrag). Mobbing, das im privaten Bereich stattfindet, aber in die Schule hineinwirkt, kann schulische Auswirkungen haben. Gemäß der einschlägigen Regelung des § 47 Abs. 4 SchUG kann das Verhalten einer Schülerin bzw. eines Schülers außer- halb der Schule im Rahmen von Erziehungsmaßnahmen berücksichtigt werden. Doch dürfen hierbei nur Maßnahmen gemäß § 47 Abs. 1 und § 48 SchUG gesetzt werden.
§ 47 SchUG zufolge hat die Lehrkraft in ihrer Unterrichts- und Erziehungsarbeit die der Erziehungssituation angemessenen persönlichkeits- und gemeinschaftsbildenden Erziehungsmittel anzuwenden.
Das bedeutet im Zusammenhang mit Mobbing die Aufforderung oder Zurechtweisung das negative Verhalten zu stoppen (§ 47 Abs.1) und eine Aufklärung über allfällige schulrechtliche Folgen, die bis zum Ausschluss der Schülerin / des Schülers führen können (§ 49 Abs. 1), aber auch über allfällige strafrechtliche Folgen.
Mahmoud wurde öffentlich beschimpft und körperlich misshandelt, das könnte strafrechtlich relevant sein, wenn die Täterinnen und Täter bereits strafmündig sind (§ 115 Abs. 1 Strafgesetzbuch). Ab 14 Jahren werden Jugendliche strafrechtlich zur Verantwortung gezogen und sind schadenersatzpflichtig.
Eine entsprechende Beurteilung obliegt dabei den Behörden der Strafverfolgung sowie den ordentlichen Gerichten. Erhebt sich ein entsprechender Verdacht, ist der Schulleiter grundsätzlich zur Anzeige an die Kriminalpolizei bzw. die Staatsanwaltschaft verpflichtet (vgl. § 78 StPO).
Leitfrage 3: Welche Überlegungen / Entscheidungen sind bezüglich der weiteren Vorgehensweise sinnvoll?
In diesem Fall wäre es wünschenswert, dass der Klassenvorstand von Mahmoud mit dem Klassenvorstand der Parallelklasse und mit der Schulsozialarbeiterin / dem Schulsozialarbeiter gemeinsam die erforderlichen Maßnahmen vorbereitet und einleitet. Es wäre auch zu überlegen, inwieweit der Busfahrer unterstützend miteinbezogen werden kann. Die Kooperation ist wichtig, weil die Täter nicht in der gleichen Klasse und auch zum Teil nicht an der gleichen Schule sind. Die Sozialarbeiterin / Der Sozialarbeiter könnte den Zugang zu den anderen Schülerinnen und Schülern aus der AHS suchen, weil sie / er im sozialen Umfeld der Schule des betroffenen Schülers (auch außerhalb der Schule) agieren kann. Eine koordinierte Vorgehensweise der betroffenen Schulen ist empfehlenswert.
Ggf. können weitere Expertinnen und Experten aus dem psychosozialen Team der Schule hinzugezogen oder für einzelne Interventionsschritte eingesetzt werden z.B. eine psychologische Einzelbetreuung für den Schüler Mahmoud.
- Gespräch mit Mahmoud: Für die weiteren Maßnahmen, um das Mobbing zu beenden, sollte zunächst das Einverständnis von Mahmoud eingeholt und über die weiteren Schritte aufgeklärt werden. Wichtig ist auch Mahmoud zu motivieren, weitere Übergriffe sofort z.B. an die Schulsozialarbeiterin / den Schulsozialarbeiter zu melden.
- Gespräche mit dem Täter / den Täterinnen, die an der gleichen Schule sind: Klarstellen, dass Mobbing an der Schule nicht geduldet wird. Die Täterinnen / die Täter zur Rede stellen, ihr Verhalten aber nicht bestrafen, sondern sie aktiv in die Lösung des Problems mit einbeziehen.
In diesem Fall werden Methoden empfohlen, die zur Stärkung des Opfers und zur Verhaltensveränderung der Täterinnen und Täter beitragen sowie zu einer nachhaltigen Verbesserung der sozialen Kompetenzen innerhalb der Klasse führen.
Empfohlene Anti-Mobbing-Strategien
Schulbus-Buddies in den Schulen etablieren. Sie können als Freunde, Ratgeber und Helferinnen / Helfer, anderen Schülerinnen und Schülern vor allem in den ersten Klassen zur Seite stehen. Sie sind Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für kleinere und größere Probleme auf dem Schulweg.
In diesem Fall könnte die Auseinandersetzung mit Themen wie „Rassismus“ und „Zivilcourage“ im Rahmen fächerübergreifenden Projektunterrichtes unterstützend sein, (Rundschreiben Nr. 44/2001 Grundsatzerlass zum Projektunterricht, https://www.bmb.gv.at/schulen/bo/rg/projektunterricht.html und Info zum Bildungsförderungsfonds http://www.bildungsfoerderungsfonds.at/)
Was passiert danach?
Es werden Gespräche mit Mahmoud und den Täterinnen / den Tätern geführt, um festzustellen, ob die durchgeführten Maßnahmen erfolgreich waren. Langfristig wird empfohlen, sich im Rahmen der Qualitätsentwicklung an der Schule mit dem Thema der gewaltfreien Schulkultur auseinanderzusetzen.
- Mit den Tätern / den Täterinnen und betroffenem Buben ein gemeinsames Gespräch führen!
- Rassistische Inhalte nicht benennen! (Hier müssen klare Botschaften übermittelt werden: „Wir dulden keine rassistischen Äußerungen an unserer Schule!“)
- Sich nicht dafür zuständig fühlen, weil es nicht in der eigenen Klasse / Schule stattfindet!
- Nach kurzfristiger Besserung lockerlassen!
- Mit Strafen drohen!
- Mit den Eltern der Beteiligten gemeinsam über den Fall reden!
- Nur Gespräche mit dem betroffenen Schüler führen!
- Dem betroffenen Schüler keine Helfer zu Seite stellen!