3. Fallbeispiel Hannah und Jonas

Fallbeispiel Hannah und Jonas (Sexting)

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Hannah ist bei ihren Mitschülerinnen und Mitschülern sehr beliebt. Sie ist 16 Jahre alt und geht in die 1. Klasse einer AHS in einer größeren Stadt. Sie verliebt sich in den ebenfalls 16-jährigen Jonas aus der Parallelklasse, der erst seit der 5. Klasse an der Schule ist. Die beiden sind 3 Monate unzertrennlich und „tauschen“ in dieser Zeit erotische Bilder und Videos aus. Zumindest Hannah schickt Jonas solche Aufnahmen. Hannah vertraut Jonas, sie ist sich sicher, er würde ihre Bilder nie weitergeben. Die beiden sind nicht nur in der Schule unzertrennlich, sondern schreiben sich auch über WhatsApp romantische Nachrichten. Nach drei Monaten verliebt sich Hannah jedoch in einen Burschen, den sie im Skiurlaub mit ihrer Familie kennengelernt hat, und macht mit Jonas Schluss. Jonas fühlt sich bloßgestellt und verletzt, damit hätte er nicht gerechnet, war doch Hannah sein „Ein und Alles“. Alle seine Mitschülerinnen und Mitschüler bekommen mit, wie er „kalt abserviert“ wurde. Um zu zeigen, welche „Schlampe“ sie sei, stellt er ein Selbstbefriedigungs-Video von ihr in seine Freundes-WhatsApp-Gruppe. Von dieser verbreitet sich das Video sofort weiter an der Schule, aber auch an anderen Schulen der Umgebung.

Hannah wird nun in der Schule von allen ausgelacht und mit entsprechenden Kommentaren bedacht. Auch einige ihrer engsten Freundinnen machen mit und werfen ihr vor, selbst schuld zu sein, wenn sie so ein Video aus der Hand gibt. Jonas steht durch diese Aktion deutlich besser da und erfährt viel Zuspruch.

Hannah wird von ihren Eltern unterstützt, und die Familie überlegt, Jonas anzuzeigen. Daraufhin verschlimmert sich die Situation noch weiter, denn nun hört sie von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, wenn sie das Gespräch sucht „Na, werd’ ich jetzt auch angezeigt?“. Ihre Eltern bitten auch um ein Gespräch an der Schule und wenden sich an die Direktion.

Erste Hilfe für die betroffene Schülerin: Im Elterngespräch stellen sich die Schulleitung und der Klassenvorstand eindeutig hinter Hannah und zeigen damit, dass sie in ihrer Situation nicht alleine gelassen wird. Die Pausenaufsicht wird vor ihrer Klasse verstärkt, um sie vor Übergriffen zu schützen.

Zusätzlich: Hannah wird angeboten, ihre Pausen – sollte die Situation unerträglich sein – auch im Beratungsraum oder Lehrer/innenaufenthaltsraum verbringen zu können. In weiterer Folge wird direkt ein Gespräch mit Jonas festgelegt, in dem ihm klargemacht wird, dass sein Verhalten strafbar ist, auch wenn er verständlicherweise verletzt war.

Leitfrage 1: „Welche Mobbingform und welches Mobbingmotiv lassen sich erkennen?“

Folgende Mobbingkriterien sind erfüllt:

  • Schädigungsabsicht: Jonas fühlt sich zurückgewiesen und bloßgestellt und möchte das nicht auf sich sitzen lassen.
  • Machtungleichgewicht: Jonas besitzt entsprechende Aufnahmen von Hannah und kann sie einsetzen. Durch die Verbreitung des Videos ist die Anzahl der Täterinnen und Täter unüberschaubar groß.
  • Wiederholungsaspekt: unkontrollierbare Weiterverbreitung, verbale Übergriffe in der Schule.
  • Hilflosigkeit: Hannah kann die Situation aus eigener Kraft nicht auflösen.

Jonas erhält Zuspruch, wodurch sich sein Selbstwertgefühl steigert und er seinen Status innerhalb der Gruppe wiederherstellen kann. Die Erfahrungen und Beobachtungen, die in Teamgesprächen gesammelt werden, können helfen, mögliche Motive der beteiligten Schülerinnen und Schüler herauszufinden.

  • Cybermobbing: Videos mit sexuellen Inhalten werden in der WhatsApp-Gruppe verbreitet​​​​​​​
  • Verbales Mobbing: Vorwürfe machen, Beschimpfungen

Leitfrage 2: „Gibt es gesetzliche Rahmenbedingungen, die beachtet werden müssen? Allfällige strafrechtliche Folgen?“

Im Rahmen der Aufsichtspflicht nach § 51 Abs. 3 SchUG obliegt es der Lehrkraft, auf die körperliche Sicherheit und auf die Gesundheit der Schülerinnen und Schüler zu achten. Die Intensität der Aufsicht wird sich dabei nach dem Alter und der geistigen Reife (d.h. welches durchschnittliche Ausmaß an Einsichtsfähigkeit darf in der aktuellen Situation erwartet werden) der Schülerinnen und Schüler richten (s. hierzu auch RS Nr. 15/2005 „Aufsichtserlass“).

Der in § 2 SchOG verankerte schulische Erziehungsauftrag ergänzt jenen der Eltern. Es ist das grundsätzliche Recht von Eltern, ihre Kinder zu erziehen. Dieses Recht, das natürlich auch eine Verpflichtung bedeutet, darf der Staat nicht einfach an sich ziehen. Das bringt auch § 47 SchUG zum Ausdruck, der ausdrücklich mit „Mitwirkung der Schule an der Erziehung“ überschrieben ist.

Das Schulrecht basiert dabei auf dem Grundsatz des gemeinschaftlichen Zusammenwirkens zwischen Schule und Elternhaus (§2 SchUG). Aufeinander abgestimmtes Handeln setzt allerdings wechselseitige Information über erziehungsrelevante Vorkomm- nisse voraus. § 48 SchUG verlangt deshalb von den Organen der Schule – und hierbei insbesondere vom Klassenvorstand bzw. dem Schulleiter  / der Schulleiterin – die Kontaktaufnahme mit den Eltern, wann immer es die Erziehungssituation eines Kindes erfordert. In Fällen, in denen die Eltern ihren Pflichten beharrlich nicht nachkommen oder eine Einigkeit hinsichtlich der weiteren Vorgehensweise nicht zu erzielen ist, sieht § 48 als Ultima-Ratio-Maßnahme eine Verständigung der zuständigen Kinder- und Jugendhilfe durch die Schulleiterin / den Schulleiter vor. Wird seitens der Eltern dem Kind ein bestimmter Gegenstand – wie im konkreten Fall das Handy mit Zugang zum Internet und somit zu WhatsApp – zur Verfügung gestellt, so ist das Kind erzieherisch dazu anzuhalten, wie es damit sicher umzugehen hat. Auch ist im Rahmen der elterlichen Obsorge zu prüfen, inwieweit sich das Kind damit wohlverhält.

Im konkreten Beispiel wirkt das Mobbing auch in den außerschulischen Bereich. Mobbing, das im privaten Bereich stattfindet, aber in die Schule hineinwirkt, kann schulische Auswirkungen haben. Gemäß der einschlägigen Regelung des § 47 Abs. 4 SchUG kann das Verhalten einer Schülerin bzw. eines Schülers außerhalb der Schule im Rahmen von Erziehungsmaßnahmen berücksichtigt werden. Doch dürfen hierbei nur Maßnahmen gemäß § 47 Abs. 1 und § 48 SchUG gesetzt werden. § 47 SchUG zufolge hat die Lehrkraft in ihrer Unterrichts- und Erziehungsarbeit die der Erziehungssituation angemessenen persönlichkeits- und gemeinschaftsbildenden Erziehungsmittel anzuwenden.

Das bedeutet im Zusammenhang mit Mobbing die Aufforderung oder Zurechtweisung (§ 47 Abs.1), das negative Verhalten zu stoppen und eine Aufklärung über allfällige schulrechtliche Folgen, die bis zum Ausschluss der Schülerin / des Schülers führen können (§ 49 Abs. 1), aber auch über allfällige strafrechtliche Folgen.

 

Mit Cybermobbing in Zusammenhang stehendes Verhalten von Schülerinnen und Schülern kann auch strafrechtliche Relevanz entfalten:

Fortgesetzte Belästigung im Wege einer Telekommunikation oder eines Computersystems. Cybermobbing ist nach § 107c StGB strafbar.

§ 207a des Strafgesetzbuches​​​​​​​ („Pornografische Darstellungen Minderjähriger“) hat zum Ziel, Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren zu schützen. Foto- oder Videoaufnahmen von geschlechtlichen Handlungen, in die Minderjährige involviert sind, gelten demnach als Kinderpornografie. Jede Handlung im Zusammenhang mit Kinderpornografie ist verboten, darunter das Herstellen, das Anbieten, der Besitz oder das Überlassen.

Nur das einvernehmliche Tauschen von eigenen pornografischen Fotos oder Videos zwischen zwei Jugendlichen ab 14 Jahren ist seit 1.1.2016 ist straffrei. Deshalb gilt im vorliegenden Fall der § 207a lediglich für Hannah nicht. Für alle anderen, die das Video besitzen und weitergeschickt haben, kann der Tatbestand nach § 207a gelten.

Eine entsprechende Beurteilung obliegt dabei den Behörden der Strafverfolgung sowie den ordentlichen Gerichten. Erhebt sich ein entsprechender Verdacht, ist der Schulleiter / die Schulleiterin grundsätzlich zur Anzeige an die Kriminalpolizei bzw. die Staatsanwaltschaft verpflichtet (vgl. § 78 StPO). Eine Pflicht zur Anzeige nach Abs.1 besteht nicht,

  1. wenn die Anzeige eine amtliche Tätigkeit beeinträchtigen würde, deren Wirksamkeit eines persönlichen Vertrauensverhältnisses bedarf, oder
  2. wenn und solange hinreichende Gründe für die Annahme vorliegen, die Strafbarkeit der Tat werde binnen kurzem durch schadensbereinigende Maßnahmen entfallen.

Die Behörde oder öffentliche Dienststelle hat jedenfalls alles zu unternehmen, was zum Schutz des Opfers vor Gefährdung notwendig ist.

 

Leitfrage 3: „Welche Überlegungen / Entscheidungen bezüglich der weiteren Vorgehensweise sind sinnvoll?“

In diesem Fall ist es sinnvoll, für die Entscheidung jemanden beizuziehen, der die rechtlichen Konsequenzen abschätzen kann (v. a. hinsichtlich des §207a StGB – pornographische Darstellung Minderjähriger), weil die Auswirkungen beträchtlich sein können. Sollte mit der Präventionspolizistin / dem Präventionspolizisten der Schule ein Informationsgespräch geführt werden wollen, so soll der Fall anonymisiert und entpersonalisiert diskutiert werden, da die Beamtinnen und Beamten bei Kenntnis einer Straftat auf jeden Fall anzeigen müssen.

Um weitere Schritte zu überlegen, kann die Schulsozialarbeit und Schulpsychologie einbezogen werden. Ein solcher Fall betrifft in der Regel viele Klassen und eventuell sogar mehrere Schulen. Eine koordinierte Vorgehensweise an mehreren Standorten ist empfehlenswert.

Folgende Schritte sind sinnvoll:

  • Überblick verschaffen – Wie weit sind die Aufnahmen verbreitet? Wer aller hat sie gespeichert und weiterverbreitet?
  • Zur Löschung auffordern – Mit Hinweis auf § 207a werden alle Schülerinnen und Schüler der betroffenen Schulen von den Klassenvorständen dringend aufgefordert, die Aufnahmen zu löschen, weil sie sich sonst auf jeden Fall auch strafbar machen und ihre digitalen Geräte eingezogen und vernichtet werden können. Die Löschung muss sowohl im sozialen Netzwerk, in dem es verbreitet wurde, wie auch in den Dateispeicherorten der digitalen Geräte und der Backups erfolgen.
  • Klarmachen, dass die Schuld nicht bei Hannah liegt, sondern bei ALLEN Personen, die die intimen Aufnahmen weiterverbreiten, und sie deshalb verurteilen. Klarmachen, dass jegliches Weitermobben zu Konsequenzen führt und von der Schule nicht geduldet wird.
  • Gespräch mit Jonas, in dem zwar Verständnis für seine verletzten Gefühle gezeigt wird, aber verdeutlicht wird, dass sein Verhalten damit nicht entschuldbar ist. Es wird ihm Zeit eingeräumt, sich Möglichkeiten zur Wiedergutmachung zu überlegen und auch umzusetzen, so dass Hannah sie annehmen kann. Sollte Jonas aber weitermachen und keine merkbare Wiedergutmachung leisten, so werden weitere Konsequenzen (z. B. Disziplinarkonferenz) direkt besprochen.
  • Gespräch mit Hannah, in dem eine psychologische Unterstützung angeboten werden kann. Diese Unterstützung sollten ihre Mitschülerinnen und Mitschüler nicht direkt erfahren. Im Aufarbeiten des Vorfalles geht es auch darum, wie Hannah mit möglichem noch folgendem Auftauchen des Videos umgehen lernen kann, ohne weiteren Schaden daraus erleiden zu müssen (Stützen, Stärkung des Selbstwertgefühls).
  • Erste Hilfe für andere betroffene Schülerinnen und Schüler: Gewaltsituationen (sowohl psychisch als auch physisch), die beobachtet werden, sofort unterbrechen und einschreiten. Klaren Standpunkt als Lehrkraft gegen Gewalt beziehen (Null-Toleranz) und Grenzen aufzeigen („Schluss damit“, „Stopp!“).

Was passiert danach?

Nach einiger Zeit werden Gespräche mit Jonas und Hannah, getrennt voneinander nochmals durchgeführt, um zu sehen, ob die Intervention erfolgreich war.

Nichtwirksam: Die Aufnahmen machen weiter die Runde. Auf jeden Fall die Polizei einschalten!

Wirksam: Präventionsstrategie festlegen. Information über die rechtliche Situation und den Umgang der Schule mit Gewaltsituationen sowohl für die Schülerinnen und Schüler als auch für das Lehrer/innenkollegium.

  • Nicht dazu auffordern das Video auf WhatsApp sofort zu löschen.
  • Schülerinnen und Schüler nicht über mögliche strafrechtliche Konsequenzen aufklären.
  • Mit den Eltern der Beteiligten gemeinsam über den Fall reden!
  • Den konkreten Fall im Rahmen eines Elternabends besprechen!
  • Den betroffenen Personen keine Unterstützung zur Seite stellen!
  • Keine nachhaltigen Präventionsmaßnahmen setzen!
  • Sofort Anzeige erstatten, ohne sich über die möglichen Konsequenzen erkundigt zu haben.
  • Dem Mädchen vorwurfsvoll begegnen.
  • Nicht eingreifen, weil es sich um das Privatleben der Jugendlichen handelt.
  • Sich das betroffene Video / Bild schicken lassen.
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