Drei Zahlencodes

Lernen Lernerfolg

Drei Zahlencodes

(An)zahlen begegnen uns im Alltag in unterschiedlichen Formaten: Wenn auf dem Kuchen- teller noch drei Stück Kuchen übrig sind, so nehmen wir die Mächtigkeit der Menge von Kuchenstücken (=  drei) als „analoge Größenrepräsentation“ wahr. Zahlen können auch  als Zahlwörter verbal benannt werden („drei“) oder als Arabische Ziffern und Zahlen (3) niedergeschrieben werden. Zahlwörter und arabische Zahlen fungieren als symbolische Darstellungsformen für analoge „Numerositäten“ in unserer Umwelt. Bei kompetenten Erwachsenen sind diese drei Zahlencodes (analog, verbal und visuell-arabisch) neuro- funktional so eng miteinander vernetzt, dass sie stets gemeinsam automatisch aktiviert werden (Triple-Code Modell, Dehaene, 2012). Wir können die Ziffer 5 gar nicht wahr- nehmen, ohne uns gleichzeitig der numerischen Bedeutung dieser Ziffer (also der ana- logen Größenrepräsentation der „Fünfheit“) bewusst zu sein. Diese hochautomatischen Aktivierungsprozesse sind bei Kindern noch nicht vorhanden, das neurofunktionale Netzwerk der Zahlenverarbeitung entwickelt sich erst im Lauf der Kindheit und basiert auf vielfacher Erfahrung mit den unterschiedlichen Zahlencodes.

Ein Kernmechanismus der analogen Größenrepräsentation ist uns offenbar angeboren: Kinder sind von Geburt an aufmerksam für die Anzahl von Objekten in der Welt und verfügen auch über ein naives Grundverständnis für Addieren (= etwas hinzufügen) und Subtrahieren (= etwas wegnehmen). Selbst einfache „falsche Rechenprozesse“ werden bemerkt: wenn zu einer Mickymaus-Figur durch einen Schirm verdeckt eine zweite Figur hinzugestellt wird, aber nach Entfernung des Abdeckschirms nur eine Figur sichtbar wird, dann sind bereits sechs Monate alte Babys irritiert (Wynn, 1992).

Im Zuge des Spracherwerbs werden auch die ersten Zahlwörter erlernt. Diese werden anfangs meist ohne klaren Bezug zu den „analogen Mengenrepräsentationen“ benannt oder als Zahlwortsequenz („eins, zwei, drei“…) aufgesagt, ähnlich wie Kinderreime. Um Zählprozesse korrekt durchführen zu können, müssen Kinder eine Reihe von grund- legenden Zählprinzipien (Gelman & Gallistel, 1978) verstehen:

  1. Prinzip der Eins-zu-eins Zuordnung: Jedem zu zählenden Objekt muss genau ein Zahlwort zugeordnet werden. Typische Fehler sind, dass ein Objekt doppelt oder  gar nicht gezählt wird.
  2. Prinzip der stabilen Abfolge: Die Zahlwörter werden in einer konsistenten Abfolge verwendet. Zählfehler treten auf, wenn Kinder die Zahlwortreihe noch durch- einander bringen („eins, zwei, drei, vier, sieben…“)2
  3. Kardinalitätsprinzip: Das letzte Wort des Zählprozesses repräsentiert die Mächtig- keit (oder Kardinalität) der gezählten Menge. Manchmal ist es  schwierig  zu erkennen, ob Kinder dieses Prinzip bereits verstehen, auch wenn der Zählprozess  an sich korrekt durchgeführt werden kann. Ist die Aufgabe, aus einer größeren Menge 5 Murmeln abzuzählen und fragt man dann: „Wo siehst Du hier die 5 Mur- meln?“ so zeigen Kinder, die das Kardinalitätsprinzip noch nicht erfasst haben, oft  auf die 5. Murmel (anstatt auf die Gesamtmenge der Murmeln).

Zur Kenntnis der korrekten Zahlwortabfolge gehört später auch, dass Kinder die Zehner-Zahlwörter kennen und wissen, dass nach „neunund...“ jeweils der nächste Zehner zu benennen ist (typischer Fehler: „neunundzwanzig, zehnundzwanzig, elfundzwanzig…“)

Ein besonderer Zählprozess wird für kleine Anzahlen (bis vier Objekte) bereits von Klein- kindern verwendet: Ohne seriell-verbales eins-zu-eins-Abzählen kann die Anzahl auf einen Blick erfasst werden, daher benötigt das Zählen kaum länger, wenn vier als wenn ein oder zwei Objekte gezählt werden. (Ab etwa fünf Objekten nimmt die Zeit, die für einen Zählprozess benötigt wird, stetig mit steigender Anzahl zu, weil ab dieser Anzahl entweder wirklich gezählt oder die Anzahl aus kleineren Teilmengen zusammengefasst werden muss). Dieser eher visuelle Zählprozess kleiner Anzahlen wird als Subitizing (lat. subito – sofort, geschwind) bezeichnet. Auch rechenschwache Kinder können diesen Prozess des Subitizings anwenden, aber er ist oft auf einen kleineren Zahlenraum (zwei oder drei Objekte) beschränkt und bei exakter Messung der Reaktionszeiten kann man feststellen, dass der Prozess weniger effizient und damit geringfügig (um wenige Zehntel- sekunden), aber signifikant langsamer abläuft (Schleifer & Landerl, 2011).

Auch einfache Rechenprozesse werden im Kindergartenalter bereits durchgeführt, wobei hier zumeist die Finger zum Nachzählen zu Hilfe genommen werden (Fingerrechnen). Dem Fingerrechnen kommt beim Aufbau der neurokognitiven Repräsentation von Zah- len eine wichtige Rolle zu (von Aster, Kaufmann, & Lipka, 2015): Im Gehirn sind Finger und Zahlen vermutlich nicht zufällig in benachbarten Arealen repräsentiert. Kinder mit Fingeragnosie (einer neurofunktionalen Störung, bei der Kinder nicht zuordnen können, an welchem Finger sie berührt werden, wenn sie ihre Hände nicht sehen können) haben häufig Probleme im Aufbau des Zahlenwissens und der Rechenleistung (Reeve & Hum- berstone, 2011). Fingerrechnen stellt also eine wichtige Grundlage für die Entwicklung differenzierterer Rechenleistungen dar und sollte im schulischen Mathematikunterricht keinesfalls zu früh unterbunden werden. Wenn Kinder Rechnungen auch ohne Zuhilfe- nahme der Finger lösen können, geben sie diese umständliche Strategie ganz von selbst zugunsten effizienterer Strategien auf (siehe auch Abschnitt zählendes Rechnen).

Auch arabische Ziffern sind Schulanfängern zum Teil bereits bekannt. Die Komplexitäten des Stellenwertsystems mehrstelliger Zahlen und das schriftliche Rechnen werden üblicherweise im Kontext des schulischen Mathematikunterrichts erworben. Das Stellen- wertsystem ist eine Besonderheit des arabischen Zahlsystems, die zu seiner weltweiten Verbreitung führte: Mit nur zehn unterschiedlichen Ziffern (0 bis 9) können unendlich viele Zahlen dargestellt werden. Der Erwerb des Stellenwertsystems  birgt  allerdings  eine ganze Reihe von Stolpersteinen:

Ein- und dieselbe Ziffer hat in unterschiedlichen Positionen stark unterschiedliche numerische Bedeutung (z. B. 5, 52, 576, 5814, usw.).

Die Ziffer „0“ bedeutet nicht „nichts“, vielmehr kommt ihr eine spezielle Funktion als Platzhalter zu: 502 hat eine völlig andere Bedeutung als 52. Es dürfen aber nicht alle Nullen von Zahlwörtern angeschrieben werden: die Zahl „dreitausendfünfhundertzehn“ ist nicht anzuschreiben als 300050010, sondern als 3510, wobei der Platzhalter 0 der Tausender- und Hunderter-Zahl überschrieben werden muss. Auch die Zahl „achthundert“ ist nicht als 8100 dazustellen, obwohl doch 8 für „acht“ und 100 für „hundert“ steht.

Zweistellige Zahlen stellen aufgrund der Zehner-Einer Inversion eine besondere Herausforderung dar: Während im Arabischen Zahlensystem erst der Zehner und dann der Einer angeschrieben wird, wird im deutschen Zahlwortsystem erst der Einer genannt und dann erst der Zehner (21 – „einundzwanzig“). Diese Inversion gilt ausschließlich für die Zehnerposition, bei der Hunderter- und Tausenderposition gibt es wiederum keine Inversion. In anderen Sprachen (z. B. Englisch) werden die Zehner meist vor den Einern benannt („twenty-one“) – tatsächlich passieren in diesen Sprachen auch die bei uns so häufigen „Zahlenverdreher“ deutlich seltener.

Die ersten Zahlen der zweiten Dekade sind im deutschen Zahlwortsystem besonders intransparent: Aus den Zahlwörtern „elf“ und „zwölf“ geht nicht hervor, dass hier eine neue Dekade beginnt und 10 + 1 bzw. 10 + 2 gemeint ist. Erst bei „dreizehn“ wird aus der Wortform deutlich, dass hier eine „Zehn“ enthalten ist.

Aktuelle Befunde zeigen, dass ein kompetenter Umgang mit den symbolischen Zahlen- systemen (bes. Stellenwertsystem) einen wichtigen Prädiktor für die spätere Rechen- leistungen darstellt (z. B. Göbel, Watson, Lervåg, & Hulme, 2014). Kinder mit Rechen- schwierigkeiten zeigen noch in der 2. Schulstufe massive Schwierigkeiten im Umgang mit zweistelligen Zahlen (Landerl, 2013). Zu einem Zeitpunkt, zu dem laut Lehrplan bereits das Ein-mal-eins intensiv geübt wird, fehlt diesen Kindern häufig noch das grundlegende Verständnis für das Stellenwertsystem. Wie dieses Verständnis erarbeitet werden kann, wird weiter unten dargestellt.

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