Schriftliche Rechenverfahren

Lernen Lernerfolg

Ab der 3. Klasse werden Kinder mit den standardisierten Algorithmen der schriftlichen Rechenverfahren vertraut gemacht. In der traditionellen Sichtweise gelten diese als die „Krönung des Rechenunterrichts“ (Krauthausen, 1993) und in der Öffentlichkeit wird z. B. bei Lehrlingen als Zeichen für mangelnde Schulbildung beklagt, dass diese „nicht einmal schriftlich multiplizieren“ könnten. Der Wert dieser Standardverfahren liegt in der Er- leichterung, der größeren Schnelligkeit und Sicherheit beim Rechnen mit großen Zahlen, weil nur mit (kleineren) Ziffern gerechnet wird und die Ausführung des Gesamtverfahrens in wiederholter Anwendung der immer gleichen  elementaren  Rechenschritte  besteht. Die quantitative Bedeutung der Zahlen wird erspart und muss erst wieder im Ergebnis interpretiert werden. Dieser Vorteil ist in der herkömmlichen Unterrichtspraxis zugleich ein Nachteil. Indem oft auf kürzestem Weg die formalen Algorithmen „beigebracht“ werden und diese dann als Verhaltensanweisung über fast zwei Schuljahre mechanisch geübt, kontrolliert und wieder geübt werden, können diese Verfahren sogar zu „kognitiver Passivität“ bei den Kindern führen, die die  Vorstellungsneutralität  der  Rechenschritte auf das Rechnen an sich ausdehnen. Sie können diese Verfahren, die jeweils genormt sind12, für das „eigentliche“ Rechnen halten, bei dem es nichts zu verstehen gilt, aber die strengen Vorschriften genau einzuhalten sind (Mathematik hat vielleicht auch des- wegen allgemein den Ruf, formal, undurchschaubar und streng zu sein). Wie bei den

„Rechenfakten“ (das 1 + 1 im Zahlenraum 20 und das kleine 1 × 1) sind bei den formalen Algorithmen und Rechenprozeduren aufgrund des Ziffernrechnens keine inneren Modelle tätig, außer die in der Gedächtnisfunktion gespeicherten Abfolgen der  Rechenschritte und die im Arbeitsgedächtnis verankerten Zwischenergebnisse, Überträge etc. Wie deutlich das konzeptuelle Verständnis für Rechenoperationen  und  die  Beherrschung  von Rechenprozeduren divergieren können, zeigen Beobachtungen an brasilianischen Straßenkindern, die schnell und effizient das Wechselgeld berechnen konnten, wenn sie Obst an Touristen verkauften, aber an denselben Aufgaben kläglich scheiterten, wenn     sie als schriftliche Rechnungen mit mehrstelligen Zahlen präsentiert wurden (Carraher, Carraher & Schliemann, 1985).

Was in herkömmlicher Unterrichtspraxis oft nur als Vorstufe zu den schriftlichen Ver-fahren gilt, ist für die mathematische Entwicklung der Kinder von großer Bedeutung: das halbschriftliche Rechnen und das Kopfrechnen. Statt ausschließlich mit Ziffern wird bei diesen Verfahren mit Quantitäten im Zahlenraum operiert und schon zeigt sich wieder  die Vielfalt der Lösungswege, die bewegliches Denken unterstützt (vgl. Wittmann & Müller, 1992). Kopfrechnen unterscheidet sich von den halbschriftlichen Verfahren durch die explizite Notierung der Rechenwege beim halbschriftlichen Rechnen. Die Haupt- strategien bei der Addition sind „Stellenwerte extra“, „Schrittweise“ und „Vereinfachen“, bei der Subtraktion kommt noch „Auffüllen“ dazu. Dabei ist es nicht Sinn des Unterrichts, alle diese Strategien explizit beizubringen, sondern die Kinder sollen sich die beim Kopfrechnen je nach Ausgangszahl und individueller Vorliebe flexiblen Vorgänge selbst bewusst machen und über das Vergleichen mit den Lösungen anderer Kinder die Zu- sammenhänge im Zahlenraum verstehen. Nach und nach können sich gemäß dem Prinzip der fortschreitenden Schematisierung besonders geeignete Verfahren herausbilden.

12Wenn sich auch beim Blick über die Grenzen zeigt, dass diese Verfahren durchaus jeweils„anders“ genormt sind. Beispiel: Subtraktion mit Abziehverfahren in Norddeutschland, mit Ergänzungsverfahren in Österreich.

In den diversen halbschriftlichen Strategien können die Kinder die Gesetzmäßigkeiten anschaulich entdecken, auf die auch die schriftlichen Algorithmen zurückgreifen.13

13Eine Relativierung der schriftlichen Verfahren zugunsten der halbschriftlichen Strategien und des Kopfrechnens wird von der Mathematikdidaktik seit dem Projekt Mathe 2000 (1991 in Dortmund) gefordert.​​​​​​​

Logo Schulpsychologie

Beratungsstellen finden